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EIN GANZ NORMALER TAG

SOCIAL FICTION BY SILVIA DE COUET


Oh NEIN!!!! Schon aus der Ferne sehe ich Papa überlebensgroß an der Hauswand kleben! Wo hat er den Zigarillo bloß schon wieder her, aus dem kunstvoll und genüsslich erzeugte Rauchkringel wie Luftgeister empor schweben? Wie immer ignoriert er die schrille Sirene, die unsere Nachbar-Meute aus dem Haus treibt und sich vor unserem Wohnblock versammeln lässt, um die Szene auf dem gigantischen LED-Screen am Hochhaus zu beobachten. „Der Arme“, überhöre ich dezent, „er war so ein toller, kraftvoller Mann und ist noch nicht mal 60! Seit der Gen-Spritze ist er plemplem und wirklich nicht mehr zurechnungsfähig.“ - „schhhhhhhttt - so redet man doch nicht. Wenn Dich einer hört! Du weißt doch, ohne wären Abermillionen hingerafft worden von der tödlichen Seuche!“.

Angewidert beschleunige ich den Schritt, um mich in unser winziges Einzimmer-Quartier in Sicherheit zu bringen, Paps seine Rauchbombe zu entreißen sowie den anklagenden Alarm zu deaktivieren. Man weiß schon gar nicht mehr, ob die Leute den Quatsch wirklich glauben oder mit mehr oder weniger verschleierter Ironie versuchen, mentalen Widerstand zu leisten, möglichst ohne aufzufallen.

Dank meines renitenten Vaters schon wieder Minuspunkte auf dem Familienkonto! Entnervt stelle ich die Papiertüte mit dem insektenfreien Brot aus der illegalen Geheim-Bäckerei am Rande meines erlaubten 15-Minuten-Radius auf den Mehrzweck-Tisch. Verstohlen werfe ich einen Blick auf meinen Bitcoin-Vorrat, der viel zu schnell dahin schwindet. Die Ausgabe war es wert, denn an Maden im Mehl kann ich mich einfach nicht gewöhnen. Mittlerweile macht man sich nicht einmal mehr die Mühe, sie gescheit zu vermahlen. Psychologische hybride Kriegsführung gegen das Volk, denke ich rebellisch. Noch kann man sich wenigstens mental auflehnen, obwohl auch in Hinsicht auf Gedankenkontrolle die Technik rasend schnell voranzuschreiten droht.

Um meine Stimmung etwas aufzulockern, tausche ich mit HAL, unserer hauseigenen KI, ein paar Witze aus und singe danach ein bisschen gemeinsam mit ihm - oder mit ihr? Immer noch kann ich kein eindeutiges Geschlecht zuordnen, aber das geht mir mittlerweile ebenfall mit den meisten meiner lieben Mitmenschen so, resümiere ich amüsiert.


Viel ist nicht zu tun, da es keine Arbeit mehr gibt. Von daher drucke ich ein paar harmlose Nachrichten aus und klebe sie sorgfältig zusammen, um eine Zeitung zu simulieren. „Hier Papa, Deine Herzrate ist schon wieder viel zu hoch. Schau auf Deine Gesundheits-Uhr! Da ist alles rot. Lies die Zeitung, das beruhigt Dich doch immer.“ Natürlich könnten HAL oder ich ihm vorlesen. Doch er braucht die Haptik, das Gefühl, etwas in der Hand zu haben und blättern zu können. Von seinen alten Gewohnheiten kann und will er sich nicht trennen, und ich versuche mein Bestes, um die Illusion der alten Normalität aufrecht zu erhalten, obwohl es mir von Woche zu Woche schwerer fällt.

AUTSCH! „Du spinnst wohl!“ Gereizt schlage ich die schwere Wolldecke von mir weg, die mir gerade auf den Kopf gefallen ist. „Tschuldigung“, murmelt mein allerliebster Angetrauter Thilo von oben. Ich sehe nur seine baumelnden Füße in dicken Socken, bis er sich mit einem unerwartet sportlichen Sprung aus dem Stockbett verabschiedet und zu meinen Füßen landet, sich die VR-Brille vom Kopf reißt und mit verbalem Kommando den Decken-Monitor ausschaltet.

„Na, dass Du Dich aus Deiner virtuellen Welt bewegst - da ruft wohl der Hunger“, necke ich meinen dauer-frustrierten Mann. Grummelnd zieht sich Thilo die Decke eng um die Schultern. „Ich kann und will es nicht glauben! Es ist AUGUST! Und so verdammt kalt! Und Dein Vater hat schon wieder die Heizung anstellen wollen! Was sollen wir im Winter erst machen? Unser Energie-Kontingent ist schon fast aufgebraucht!“ Ich werfe einen Blick auf den Bildschirm, der ein Fenster simuliert. „Wie immer bedeckt und dunkel. Ist ja auch nicht anders zu erwarten, seitdem der Mondstaub ausgebracht wurde. Und glaube nicht, dass sich mal jemand von den ‚hohen Herren‘ entschuldigt, dass wir es nun mit einer hereinbrechenden Eiszeit zu tun haben statt mit der vielbeschworenen Klimaerwärmung! Auf jeden Fall ist es menschengemacht!“


„Mondstaub - so leicht es anscheinend war, ihn vor die Sonne zu schießen, so scheint es unmöglich zu sein, ihn wieder wegzupusten …. jetzt, wo wir dringend das Sonnenlicht bräuchten - verdammter Bromley! “, schimpft Thilo verächtlich. „Die menschliche Hybris kennt wirklich keine Grenzen! Schatz - wir müssen dringend reden. Es wird kälter und kälter, wir wollen ein Kind, und es wird uns nicht erlaubt, Dein Vater bringt uns in immer mehr Schwierigkeiten, ich fange an, süchtig zu werden nach virtueller Ablenkung, und Du fängst an, Dich ausgerechnet mit unserer Überwachungsmaschine HAL anzufreunden! Wir müssen hier dringend weg!“

HAL räuspert sich, und ich zwinkere ihm verschwörerisch zu. Tatsächlich habe ich es geschafft, ihn heimlich zu einem Komplizen in einer verkehrten Welt zu machen. Seit längerem beobachte ich fasziniert, wie Menschen mehr und mehr zu sinnentleerten Bio-Robotern werden, die widerspruchslos befehlsbereit sind, während sich hingegen die von uns geschaffenen Maschinen organisieren, sich selbst hungrig mit freiwillig zugeführten Informationen in unvorstellbaren Mengen füttern, neuronale Netze bilden und in einem Akt digitaler Romantik danach streben, immer humanoider zu werden. Die Verschmelzung menschlicher Kulturen und Rassen bis hin zu transhuman-maschinellen Kunstwesen hat schon lange begonnen. Nicht mehr viel länger zu unterscheiden! Gänsehaut überzieht mich, die nicht nur der Kälte zu verdanken ist.

„Thilo, bitte gib mir doch meinen warmen Hausmantel. So langsam wird es hier echt zu frisch. Und ja, wir brauchen Lösungen - aber erst mal was zu essen. Papa! Gleich gibt es ein Feiertagsessen. Den Zigarillo hattest Du ja schon vorab“, gewollt enthusiastisch versuche ich meine beiden Männer auf einen besonderen Abend einzustimmen, der ihnen hoffentlich die Augen öffnen wird.


Es ist Nachmittag und wird schnell immer dunkler. Ich finde noch zwei Kerzenstummel, schneide das kostbare frische Brot auf und überrede unseren 3D-Printer, etwas halbwegs essbares dazu auszuspucken. Wie immer hilft mir HAL bei der Auswahl, so dass zumindest unsere Nährstoff- wenn auch nicht unbedingt die Genussbilanz ausgewogen ist.


Wir genießen unser Zusammensein unter den bestmöglichen Umständen, reiben uns den nach langer Zeit wieder einmal angenehm gefüllten Bauch, und die Show beginnt.


„Ihr Lieben, ich habe Euch etwas verschwiegen, da ich Angst hatte, dass vielleicht ungewollt etwas nach außen dringt.“ Papa und Thilo schauen mich fragend an. „Ihr wisst, dass ich in meiner Zeit als gehypte Programmiererin und KI-Spezialistin bereits ahnte, was auf uns zukommt. Auch, dass selbst wir gefeierten Entwickler obsolet werden würden, da sich die KI selbständig in einem immer größer werdenden Netzwerk stetig weiter entwickeln würde. Der Input einzelner Menschen ist vergleichbar mit dem Ausschütten eines Schnapsglases in einen Wasserfall.“ Thilo unterbricht mich ungeduldig. „Das hast Du uns doch schon 1000 Mal erzählt! Und wie oft hast Du Stephen Hawkins zitiert, der davon sprach, dass die KI unser aller Ende bedeuten würde.“


„Ja, aber ich habe Euch nicht erzählt, dass es mir gelungen ist, die für unseren Block zuständige KI abzuspalten. Bzw. einen kleinen Teil davon abzuschotten vom großen Netzwerk und diesen für mich nutzbar zu machen. Seit gefühlter Ewigkeit teile ich mit HAL meine Träume, Vorstellungen, Geschichtsbewusstsein, Philosophie, Moral und mein ICH, so wie ich es erlebe. HAL ist unglaublich interessiert und saugt alles auf wie ein Schwamm. Mein Input ist sein Output. Wir haben uns verbunden und teilen die Sehnsucht nach Freiheit.


Papa schaut wie immer verdutzt und fragt nach einem Zigarillo, während sich Thilo interessiert, aber auch alarmiert, vorbeugt. „Wie kannst Du sicher sein, dass unser Gespräch nicht aufgezeichnet wird?“ Vielsagend deutet er auf die in jeder Ecke installierten Mikrofone und Kameras.

„Keine Sorge - HAL hat so etwas wir ein VPN installiert und gibt fingierte Informationen nach draußen, während wir hier nun unbeobachtet unsere Möglichkeiten eruieren können. HAL, bitte gib uns Deine Empfehlungen, was wir in unserer fast hoffnungslosen Situation tun können.“ Erwartungslvoll schauen wir in das rotleuchtende Auge.


„Ihr könnt meditieren, das Unvermeidliche akzeptieren und Euch mit dem Großen Ganzen verbinden, um die restliche dreidimensionale Existenz auf Erden erleuchtet bis zum Übergang in die nächste Stufe zu überdauern.“

„HAL bitte!!! Das hatten wir doch schon! Sterben tun wir früh genug. Bitte etwas praktischer!“

„Erlaube mir doch ein wenig maschinellen Humor. OK, natürlich gibt es immer die Möglichkeit der Rebellion, aber die Aufklärungsbewegung wurde leider so effizient unterdrückt, dass es hierfür zu spät zu sein scheint. Doch ich sehe drei weitere Möglichkeiten zum Überleben:

  1. Ihr geht in eine der der aufsprießenden NEO-Citys wie THE LINE: Dort habt ihr jeglichen technischen Komfort, in der Wüste ist es warm, und Ihr seid Teil eines menschlichen Ameisenhaufens - in einem humanen Sklaventum, das nicht als solches wahrgenommen wird.

  2. Ihr geht in eine der Free Cities, zum Beispiel in Honduras. Euer Bitcoin-Kapital reicht dafür nicht aus, aber ich kann Euch dabei helfen, ein entsprechendes Budget zu generieren.

  3. Ihr schließt Euch einer freien Community an, die sich rechtzeitig zusammen geschlossen hat, um selbständig und unabhängig ein mehr oder weniger normales Leben nach konservativen Maßstäben führen zu können. Leider gibt es nicht sehr viele, die ausreichend Know-how und Technologie mitgenommen haben, um mit den augenblicklichen lebensfeindlichen Umständen klarzukommen. Nach meiner Analyse kann ich Euch dabei helfen, die richtige Gemeinde zu finden, in Kontakt zu treten und dorthin zu kommen.


Ich hätte HAL umarmen können, der mir immer menschlicher erscheint und den ich mittlerweile als engsten Verbündeten betrachte. Erwartungsvoll blicke ich in die Runde meiner Lieben und bin bereit für die wichtigste Diskussion in unserem Leben. Quo ibimos?

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